Wirtschaftliche Gerechtigkeit hat viele Facetten. Dennoch kann man den Stand der Dinge international vergleichbar machen: Daran arbeitet Wirtschaftsethiker Professor Dominik Enste vom Institut der deutschen Wirtschaft.

Herr Professor Enste, Sie sind ausgewiesener Wirtschaftsethiker, also sind wir bei Ihnen richtig für die Frage: Was bedeutet Gerechtigkeit?

Da gibt es leider keine kurze Antwort, auch wenn Gerechtigkeit schon vor fast 1.800 Jahren vom römische Jurist Ulpian als den festen und dauerhaften Willen beschrieben wurde, jedem sein Recht zuzuteilen. Doch wer bestimmt, wer welche Rechte hat? Und wer setzt diese Rechte dann um? Was wir als ungerecht oder gerecht empfinden, ist ganz stark davon abhängig, in welchem sozialen und kulturellen Kontext wir uns befinden – und welche philosophischen Tradition wir uns verbunden fühlen. Das führt dazu, dass jede politische Partei für sich in Anspruch nimmt, für „soziale Gerechtigkeit“ einzustehen – aber eben in unterschiedlicher Art und Weise.

Also gibt es kein weltweites Einvernehmen darüber, was Gerechtigkeit bedeutet?

Zumindest die Grundidee ist in fast allen Gesellschaften vorhanden: Der Mensch kann nicht überleben, wenn er nur an sich selbst denkt. Auch unsere Fairness-Vorstellung basiert auf dem, was Menschen auch schon vor rund 15.000 Jahren als fair empfunden haben. Da war zum Beispiel klar: Das erlegte Mammut wird gerecht unter allen aufgeteilt und auch die, die zwar nicht bei der Jagd dabei waren, aber dennoch etwas für den Stamm geleistet haben, bekommen etwas von der Beute ab. Was man als einzelner zu leisten hat und ob sich die Gegenleistung gerecht anfühlt, da gibt es allerdings kulturelle Unterschiede.

Diese Unterschiede sind wohl eng mit dem politischen System und der wirtschaftlichen Lage gekoppelt?

Ja, auf jeden Fall. Es gibt Länder, in denen das Kollektiv wichtiger ist als der einzelne Mensch. Diese unterschiedliche Haltung verändert auch die Wahrnehmung darüber, welcher persönlicher Beitrag sich gerecht anfühlt. Dieses Gefühl ist auch vom Vertrauen abhängig, das man in den Sozialstaat und die Institutionen hat, die die Verteilung am Ende organisieren. Allerdings überschätzen Menschen fast immer ihren eigenen Beitrag im Vergleich zu anderen.

Um nochmal auf das Beispiel mit dem Mammut zurückzukommen: Die uralte Gerechtigkeitsvorstellung ist ja aus einer Zeit, in der kein materielles Wachstum existierte – das Mammut war erlegt und wurde aufgeteilt. Dieses Konzept stößt aber schnell an Grenzen, wenn es um eine wirtschaftlich wachsende Gesellschaft geht, in der es immer wieder einen Überschuss zu verteilen gibt.

Absolut. Und die Verteilung des Überschusses löst sehr schnell Neideffekte aus. Wenn beispielweise ein großer Windenergiekonzern sehr erfolgreich wirtschaftet, wodurch das Vermögen der Besitzer um eine Milliarde Euro wächst, die Angestellten Boni ausgezahlt bekommen und die Kunden gute Produkte erhalten, empfinden Menschen dies als unfair. Trotz des positiven Effekts auf Gesellschaft und Wirtschaft und obwohl die Firma Steuern zahlt und Arbeitsplätze sichert, gibt es ein ungutes Bauchgefühl, weil unsere Intuition noch von der Mammut-Welt geprägt ist: wenn der eine mehr hat, muss der andere weniger haben.

Also bedeutet heutzutage Gerechtigkeit mehr als Gleichheit?

Ja. Es gibt aber einzelne Punkte, da sollte „Gerechtigkeit“ auch „Gleichheit“ bedeuten, etwa bei der sogenannten Regelgerechtigkeit. Die besagt, dass jeder Mensch vor dem Gesetz gleich ist – und das ist auch gerecht, dazu gehört auch z.B. die gleiche Behandlung von Mann und Frau. Gleichheit beim Ergebnis ist aber nicht sinnvoll, sonst würden Wettbewerben wie bei Olympia keinen Sinn machen.

Sie sprechen von Leistungsanreizen, also etwas vereinfacht: Wer mehr leistet, soll auch mehr haben. Ist das nicht so?

Im sportlichen Wettbewerb wird Leistung belohnt. In der Marktwirtschaft wird nicht die Leistung allein, sondern vor allem die Knappheit belohnt. Es geht also darum, etwas besser zu können als der Rest, um diese Fertigkeit oder Produkte für einen hohen Preis am Markt anzubieten. Die Sängerin Taylor Swift etwa leistet vielleicht weniger als irgendein anderer Sänger, der in Stunden gemessen viel fleißiger ist und womöglich besser singt, trotzdem verdient sie deutlich mehr Geld – weil sie eben die aktuelle Nachfrage auf dem Markt bedient. Und ein Bundesliga-Fußballer verdient sehr viel mehr Geld als eine Bundesliga-Fußballerin, obwohl sich beide gleich viel anstrengen und eine ähnliche Leistung erbringen. Aber die Spiele der Männer sind beliebter, spielen mehr TV-Gelder ein, verkaufen mehr Tickets, und Vereine können somit höhere Löhne auszahlen.

Ohne leistungsgemäße Ungleichheiten bei der Bezahlung würde eine Marktwirtschaft, auch eine Soziale Marktwirtschaft wie die unsere, nicht funktionieren können.

Korrekt. Ein Kernpunkt unserer Sozialen Markwirtschaft ist: Es geht nicht darum, gleiche Ergebnisse für jeden zu erzielen – aber die Startchancen, die sollten möglichst gleich sein. Wenn wir von Chancengerechtigkeit sprechen, heißt das also nicht, dass möglichst jedes Kind Abitur machen und studieren soll. Es geht vielmehr darum, es jedem jungen Menschen zu ermöglichen, das für sich persönlich bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Das empfinden die allermeisten Menschen als gerecht. Das kann aber nur gelingen, wenn Kinder die passenden Förderungen im Bildungssystem angeboten werden. Das ist noch nicht der Fall, der Bildungserfolg hängt nach wie vor stark vom Elternhaus ab.

Gerade im Bildungsbereich, aber auch bei der Einkommensverteilung wird gerne beklagt, dass Deutschland ungerecht sei. Wie schneiden wir denn da aktuell ab?

Unser Gerechtigkeitsindex für Deutschland wird gerade erstellt und erst 2025 veröffentlicht. Es zeichnet sich aber schon ab, dass Deutschland zuletzt in vielen Aspekten viel gerechter war, als es von den Menschen wahrgenommen wurde! Wir neigen eben dazu, oft nur das Schlechte zu sehen. Beim Thema Klimagerechtigkeit gehört Deutschland jedenfalls zu den nachhaltigsten Industriestaaten! Wir landen beim internationalen Vergleich der 17 Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen auf dem vierten Platz von 164 Ländern. Trotzdem gibt es auch Bereiche, in denen Deutschland den statistischen Daten nach etwas ungerechter geworden ist. Das muss aber keine schlechte Nachricht sein…

Wie bitte?

Ein wichtiges Beispiel: Die Armutsgefährdungsquote in Deutschland hat sich etwas verschlechtert, es leben also mehr Menschen als früher von weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens. Damit hat die relative Armut etwas zugenommen. Das wird dann gerne mal als sehr schlecht oder gar dramatische Entwicklung in den Medien verbreitet. Aber diese Zunahme der Armutsgefährdung fand eben insbesondere in den Jahren 2015, 2016 und 2022 statt: In jenen Jahren sind besonders viele Menschen nach Deutschland gekommen, die aus ihrer Heimat geflüchtet und hier erstmal in die Sozialleistungen gerutscht sind. Somit hat die Verschlechterung der Armutsquote nichts mit einer Verschlechterung unseres Sozialsystems zu tun! Deutschland ist faktisch nicht ungerechter geworden, unser System hat in diesen Jahren eher seine Stärke bewiesen. Wir stehen besser da, als die meisten glauben.

Eine reine Marktwirtschaft ergibt sehr ungleiche Einkommen, in unserer Sozialen Marktwirtschaft dagegen wird das Marktergebnis deutlich korrigiert, etwa durch die progressive Einkommensteuer und die sehr gut ausgebauten Sozialleistungen. Was sollten wir tun, um Deutschland auch in Zukunft gerecht zu gestalten?

Es gibt da einige Ansatzpunkte, ganz konkret würde ich vor allem das Renten- und das Steuersystem in den Blick nehmen. Das Renteneintrittsalter sollte stärker an die Lebenserwartung gekoppelt werden, wie es in anderen OECD-Ländern, zum Beispiel Österreich, schon gemacht wird.

In Deutschland könnten wir das verkraften, unsere Lebensarbeitszeit in Stunden ist im internationalen Vergleich ja recht gering.

Eben. Wir können uns das mit der Arbeitszeit bisher erlauben, weil wir in anderen Bereichen sehr produktiv sind. Aber mit Blick in die Zukunft wird es vermutlich ohne eine längere Lebensarbeitszeit nicht gehen. Und im Steuersystem müssen wir wieder mehr Leistungsgerechtigkeit herstellen: Es muss sich lohnen, viel zu leisten. Ideen von einem großzügigen Bürgergeld oder gar einem bedingungslosen Grundeinkommen führen in die Irre. Sie hemmen die Produktivität und Leistungsbereitschaft und führen zu falschen Anreizen auch bei der Zuwanderung. Auf der anderen Seite muss viel mehr dafür getan werden, bürokratische Hürden für ausländische Fachkräfte abzubauen, die wir ja dringend benötigen. Es ist eben auch eine Frage der Gerechtigkeit, was für eine ökonomische und demographische Ausgangslage wir zukünftigen Generationen hinterlassen wollen. Unser Sozialstaat muss finanzierbar bleiben, damit sozialer Ausgleich und wirtschaftlicher Erfolg weiter so gut funktionieren (im Vergleich zu vielen anderen Ländern) wie die letzten 75 Jahre.

Die Sache mit der Gerechtigkeit – ein Systemvergleich

Die Rolle und die Handlungsmöglichkeiten eines Staates hängen stark vom jeweiligen politischen System ab. Und das beeinflusst auch die Vorstellung von Gerechtigkeit, wie Professor Dominik Enste erklärt.

• Im angelsächsischen Raum, vor allem in den USA, steht die Leistungsgerechtigkeit sehr stark im Fokus. Andere Gerechtigkeitsdimensionen hingegen zeigen sich deutlich schwächer, da der Staat sich stark zurückhält. Immerhin wird oft die Bedarfsgerechtigkeit berücksichtigt, um den sozialen Absturz einzelner Menschen oder Gruppen zu verhindern.

• Im Gegensatz dazu stehen die sogenannten Wohlfahrtsstaaten, allen voran die skandinavischen Länder. Lange war etwa Schweden ein sehr ausgebauter Sozialstaat mit einem sehr hohen Steuersatz und sehr hohen Sozialleistungen. „Schweden hat aber durch Krisen gelernt“, sagt Enste, „dass die finanziellen und gesellschaftlichen Kosten für diesen Wohlfahrtsstaat sehr hoch sein können. Auch weil Menschen aus anderen Ländern zugezogen sind, um von dem System zu profitieren, ohne zugleich etwas dafür leisten zu wollen.“ Ein Sozialsystem kann schnell an seine Grenzen stoßen, wenn z.B. die Steuermoral erodiert und Menschen nicht (mehr) denken: „Ich bin selbst Teil des Staates und muss für das große Ganze etwas leisten, wenn ich kann.“

• Ein wieder anderes System ist in den südeuropäischen Ländern zu beobachten. Hier steht die Familie in Vordergrund, weil der Staat traditionell nicht so leistungsstark und stabil ist. „Das hat mit historischer Erfahrung zu tun, mit einer schwächeren gelebten Demokratie“, ordnet Enste ein. „In Italien zum Beispiel hat das zu sehr viel Schattenwirtschaft und damit zu einem weniger funktionalen Sozial- und Steuersystem geführt als in Skandinavien.“

• Schließlich gibt es in Europa die vom Kommunismus geprägten osteuropäischen Länder, die nach einer eher wirtschaftsliberaleren Zeit nun teilweise eher konservativer werden. Enste: „Hier stand lange ganz klar das Kollektiv im Vordergrund – eine gewisse Gleichheit oder Leitkultur war gewünscht und privatwirtschaftliche Aktivitäten waren unerwünscht.“

Die meisten Industriestaaten lassen sich grob einem dieser Systeme zuordnen.

Nadine Keuthen
aktiv-Redakteurin

Nadine Keuthen stürzt sich bei aktiv gerne auf Themen aus der Welt der Wissenschaft und Forschung. Die Begeisterung dafür haben ihr Masterstudium Technik- und Innovationskommunikation und ihre Zeit beim Kinderradio geweckt. Zuvor wurde sie an der Hochschule Macromedia als Journalistin ausgebildet und arbeitete im Lokalfunk und in der Sportberichterstattung. Sobald die Sonne scheint, ist Nadine mit dem Camper unterwegs und schnürt die Wanderschuhe. 

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