Der Lebensweg von Kindern aus sozial schwachen Familien ist in Deutschland, statistisch gesehen, mehr oder weniger vorgezeichnet: Die soziale Herkunft ist immer noch ein viel zu ausschlaggebender Faktor für den Bildungserfolg. Das macht auch der Nationale Bildungsbericht 2024 wieder deutlich. Ein Beispiel aus den vielen Erkenntnissen: Wenn die Eltern keinen Berufsabschluss haben, ist es deutlich unwahrscheinlicher, dass ihre Kinder die (Fach-) Hochschulreife erlangen, als wenn die Eltern einen Abschluss haben. 43 zu 74 Prozent – der Unterschied ist gewaltig.

Und auch nach der Schule spielt der Berufsabschluss der Eltern eine entscheidende Rolle. Weniger als die Hälfte der 20- bis 25-Jährigen, deren Eltern weder einen beruflichen oder akademischen Abschluss haben, besuchen eine formale Bildungseinrichtung. Zum Vergleich: haben die Eltern einen der genannten Abschlüsse, nehmen etwa drei Viertel der Kinder als junge Erwachsene nach dem Schulabschluss an Weiterqualifizierungen teil.

Die größte Bildungsoffensive der Geschichte

Um die Chancengleichheit zu verbessern, läuft ab dem Schuljahr 2024/25 das „Startchancen-Programm“: 20 Milliarden Euro extra sollen in den nächsten zehn Jahren an etwa 4.000 Schulen und Berufsschulen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schüler fließen. Für Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ist das das „größte Bildungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“. Die Fördermittel sollten auf drei zentrale Programmsäulen aufgeteilt werden: in die bessere Infrastruktur und Ausstattung der Schulen, in gezielte Lernförderung in den Kernfächern sowie in die Stärkung der Teams aus Lehrkräften und Sozialarbeitern.

Diese Offensive ist wichtig und richtig – und trotzdem setzt sie eigentlich an der falschen Stelle an“, gibt Professor Kai Maaz zu bedenken, Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation in Frankfurt. „Wir wissen schon lange, dass die Probleme, die im Schulsystem zum Vorschein kommen, nicht dort ihren Ursprung haben.“ Die frühkindliche Bildung sei nämlich ganz entscheidend: In den ersten drei bis sechs Jahren werde der Grundstein für den Erfolg im Leben gelegt.

„Chancengerechtigkeit haben wir erst dann erreicht, wenn wir die Voraussetzungen geschaffen haben, dass jedes Kind sein eigenes Potenzial entfalten und das für sich bestmögliche Ergebnis erzielen kann“, macht Maaz klar. Bei den Startchancen der Kleinsten wirklich faire Bedingungen für jeden zu schaffen, ist aber noch eine enorme Herausforderung für unseren Sozialstaat: Krippe und Kita werden zu oft „nur als System der Erziehung und Betreuung verstanden, weniger als System der Bildung“.

Die Familie muss von Anfang an im Fokus der Förderung stehen

Auch sollte der Staat den Fokus stärker auf die Familien richten – und zwar von Anfang an. Die ersten Chancen können einem Kind ja bereits vor der Geburt genommen werden, wenn die werdende Mutter etwa Alkohol oder Nikotin konsumiert. Nach der Geburt geht es dann um Förder- und Unterstützungsangebote – die jedoch vor allem von Eltern mit einem höheren Bildungsabschluss wahrgenommen werden.

Angebote wie etwa Krabbelgruppen oder Eltern-Kind-Turnen werden von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss praktisch überhaupt nicht genutzt, wie Maaz erklärt. „Das zeigt die Dringlichkeit von gezielter Förderung. Wir müssen niedrigschwellige Angebote direkt dort platzieren, wo die Familien leben.“ Dabei ginge es vor allem auch darum, die Eltern zu überzeugen: Es lohnt sich, meinem Kind diese Chancen zu ermöglichen! Zumal nicht nur die Kinder selbst von solchen Angeboten profitieren, sondern die gesamte Familie. „Eltern können Kontakte knüpfen, auch außerhalb ihrer Community, und sich so wichtiges soziales Kapital und Entwicklungspotenzial schaffen.“

Chancengerechtigkeit bedeutet auch lebenslanges Lernen

Übrigens: Bei der Chancengerechtigkeit geht es nicht nur um die frühkindliche und die schulische Bildung – sondern auch um das lebenslange Lernen. „Weiterbildungsmöglichkeiten gibt es ja jede Menge“, so Maaz, „sie zu nutzen, egal ob beruflich oder privat, das sollte für jeden erstrebenswert sein!“ 2021 gab es in Deutschland fast 60.000 staatliche, gemeinschaftliche und kommerzielle Weiterbildungsanbieter – hinzu kommen etwa 900.000 Betriebe, die für ihre Mitarbeiter Lehrgänge oder Seminare anbieten. „Die betrieblichen Weiterbildungsangebote wurden in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut“, sagt Maaz.

Ob berufsbezogen oder nicht: 83 Prozent der Erwachsenen in Deutschland bilden sich regelmäßig weiter, 2016 waren es gerade einmal 67 Prozent. „Wir sehen also, dass ein großes Interesse in der Bevölkerung besteht“, so Maaz. Was viele nicht wissen: Den meisten Beschäftigten stehen rund fünf Tage Bildungsurlaub im Jahr zu, doch nur ein bis zwei Prozent nehmen diese Möglichkeit wahr. Die eigenen Chancen zu verbessern – darum muss man sich als Erwachsener eben selbst bemühen.

Nadine Keuthen
aktiv-Redakteurin

Nadine Keuthen stürzt sich bei aktiv gerne auf Themen aus der Welt der Wissenschaft und Forschung. Die Begeisterung dafür haben ihr Masterstudium Technik- und Innovationskommunikation und ihre Zeit beim Kinderradio geweckt. Zuvor wurde sie an der Hochschule Macromedia als Journalistin ausgebildet und arbeitete im Lokalfunk und in der Sportberichterstattung. Sobald die Sonne scheint, ist Nadine mit dem Camper unterwegs und schnürt die Wanderschuhe. 

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