Nach dem Bauchgefühl vieler Zeitgenossen hat unser Sozialstaat an ausgleichender Kraft verloren. Ist da was dran? Eher nicht! Die deutsche Sozialleistungsquote liegt auf einem sehr hohen Level. Wie das Sozialbudget aus dem Bundesarbeitsministerium ausweist, werden 30 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung für staatliche Sozialleistungen aufgewendet.

Die Quote ist damit sogar etwas höher (!) als vor zehn Jahren. Von der Arbeitslosenversicherung über das Elterngeld bis zur Unfallversicherung geht es da um 1,25 Billionen Euro – pro Jahr. Das ist sehr viel Geld, von dem das meiste der Versorgung von Alten und von Kranken zugute kommt.

Das oberste Zehntel zahlt mehr als die Hälfte der gesamten Einkommensteuer

Auch der Anteil der Einkommensteuer am gesamten deutschen Steueraufkommen ist nun etwas höher (!) als vor zehn Jahren. Und sie ist ja das wichtigste Umverteilungsinstrument in unserer Sozialen Marktwirtschaft, in der starke Schultern mehr tragen sollen als schwache.

Natürlich kann man immer noch besser werden, auch als Staatswesen. Allerdings lässt sich „mehr Gerechtigkeit“ in einer wachsenden Wirtschaft grundsätzlich leichter erreichen als in einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Ökonomie. Und so oder so ist „mehr Gerechtigkeit“ nicht mal so eben per politischem Fingerschnippen zu haben. Denn das Thema hat mehrere wichtige Facetten – die sich noch dazu gegenseitig beeinflussen. 

Wer mehr leistet, soll mehr bekommen – das klingt für die meisten gerecht

Ein ganz wichtiges Prinzip jeder Marktwirtschaft ist die Leistungsgerechtigkeit. Heißt: Wer mehr leistet, soll mehr bekommen. Das hört sich einfach an, und die allermeisten Bundesbürger finden das Umfragen zufolge auch okay. Die Sache wird aber tricky, wenn es um die Definition und die Bewertung von „Leistung“ geht. Ist es zum Beispiel noch gerecht, wenn eine Top-Managerin das Hundertfache eines Facharbeiters verdient? Und wie sieht das erst bei einem Filmstar aus? Oder: Warum verdient der Altenpfleger im Schnitt weniger als die Versicherungskauffrau? Warum bekommt die Bundesligafußballerin deutlich weniger Gehalt als der Bundesligafußballer – obwohl doch beide 90 Minuten auf dem Platz ackern?

Der monetäre Wert der Arbeitsleistung wird letztlich durch den Markt bestimmt. Da geht es also um Angebot und Nachfrage und damit um relative Knappheit, die sich auszahlen kann. In unserer Sozialen Marktwirtschaft ist in diesem Zusammenhang aber noch ein weiterer Grundsatz wichtig: die Verteilungsgerechtigkeit. Heißt: Die Ergebnisse des Wirtschaftens sollten möglichst gleich zwischen den Beteiligten verteilt werden.

Daher werden die sehr unterschiedlich hohen Bruttoeinkommen in Deutschland etwas gleicher gemacht, vor allem durch den progressiven Tarif der Einkommensteuer: Der Prozentsatz, den der Staat kassiert, ist bei höheren Einkünften größer. Das am besten verdienende Zehntel liefert denn auch mehr als die Hälfte aller Einkommensteuer-Euro ab – das am schlechtesten verdienende Drittel dagegen zahlt laut Steuerstatistik keine oder fast keine Einkommensteuer.

Die Ungleichheit bei dem, was Haushalte netto haben, ist viel kleiner als die beim Bruttoeinkommen

Auch die zahlreichen staatlichen Sozialleistungen tragen zu einer gewissen Umverteilung von den Gut- zu den Geringverdienern bei. Die Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen ist daher deutlich geringer als die beim Brutto. Wirtschaftsforscher messen so etwas mit dem Gini-Koeffizienten: Bekäme jeder Mensch genau gleich viel, wäre dieser Gini-Wert 0 – und er läge bei 100, wenn ein einziger Mensch alles bekäme. Der deutsche Gini-Wert „netto“ liegt laut aktuellen Daten der EU-Statistik-Behörde Eurostat bei 29,4.

Er ist damit etwas niedriger als der EU-Durchschnittswert. Österreich liegt zum Beispiel bei 28,1, Schweden bei 29,6 und Frankreich bei 29,7. Was mit Blick auf unsere Gesellschaft wichtig ist: „Schon seit 2005 ist die Verteilung der Einkommen bei uns im Großen und Ganzen stabil geblieben“, erklärt Ökonomin Judith Niehues, die am Institut der deutschen Wirtschaft den Kooperationscluster Mikrodaten & Verteilung leitet. Heißt: Der Sozialstaat hat seine ausgleichende Funktion alles in allem gut erfüllt – trotz aller Krisen.

Die gute soziale Absicherung trägt mit zur hohen Ungleichheit der Vermögen bei

Bei den Vermögen ist die ökonomisch messbare Ungleichheit allerdings deutlich größer als bei den Einkommen. Auf Basis ihrer Vermögensbefragung weist die Deutsche Bundesbank für 2021 einen Gini-Wert von 73 aus (anno 2011 war die Ungleichheit mit 76 übrigens etwas größer). „Dieser hohe Wert liegt aber auch an der guten sozialen Absicherung in Deutschland“, erklärt Niehues. „Rechnet man die Ansprüche an die gesetzliche Rentenkasse mit, reduziert sich die Vermögensungleichheit um mehr als ein Fünftel.“

Generell seien bei einem umfangreichen sozialen Netz die Anreize zur privaten Vermögensbildung geringer –in Schweden und Norwegen sei die Vermögensungleichheit beispielsweise noch größer als in Deutschland. „Zugleich erschweren hohe Steuern und Sozialabgaben den Vermögensaufbau in der Mittelschicht.“

Der Staat sollte den privaten Vermögensaufbau erleichtern

Der Staat sollte den privaten Vermögensaufbau erleichtern Auch Unterschiede in der Vermögenshöhe zwischen Altersgruppen tragen zur Vermögensungleichheit bei – und die deutsche Gesellschaft insgesamt ist relativ alt. Dass Senioren mehr Vermögen haben als Jüngere, ist ja naheliegend, die Bundesbank hat Daten dazu: Das durchschnittliche Nettovermögen von 65- bis 74-Jährigen ist mehr als drei Mal so groß wie das von 25- bis 34-Jährigen. Der Vermögensaufbau folge eben den Lebensphasen, sagt Niehues: In der Erwerbsphase werde gespart – deshalb sei das Vermögen beim Eintritt in den Ruhestand in der Regel am größten.

Ein weiterer wichtiger Aspekt: „Dass die statistische Vermögensungleichheit in Deutschland vergleichsweise hoch ausfällt, liegt vor allem daran, dass viele Bundesbürger wenig oder sogar gar kein privates Vermögen haben“, erklärt die Ökonomin. Was unser Sozialstaat also tun sollte? „Den Vermögensaufbau erleichtern. Eine höhere Wohneigentumsquote würde die Ungleichheit deutlich verringern.“ Tatsächlich leben in allen anderen EU-Staaten mehr Menschen in den eigenen vier Wänden als bei uns.

Thomas Hofinger
Chef vom Dienst aktiv

Thomas Hofinger schreibt über Wirtschafts-, Sozial- und Tarifpolitik – und betreut die Ratgeber rund ums Geld. Nach einer Banklehre sowie dem Studium der VWL und der Geschichte machte er sein Volontariat bei einer großen Tageszeitung. Es folgten einige Berufsjahre als Redakteur und eine lange Elternzeit. 2006 heuerte Hofinger bei Deutschlands größter Wirtschaftszeitung aktiv an. In seiner Freizeit spielt er Schach und liest, gerne auch Comics.

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