Der Entgelt-Tarifvertrag für die Metall- und Elektro-Industrie läuft am 30. September aus. Mitte September starten daher in Niedersachsen die ersten Verhandlungen. Die IG Metall fordert eine Entgelt-Erhöhung von 7 Prozent. Für ökonomische Experten wäre eine zusätzliche Belastung allerdings der völlig falsche Weg, um das Konjunkturtal zu verlassen. Das Problem: Schon jetzt kommen die Betriebe nicht in Fahrt.

Das belegen aktuelle Konjunkturzahlen auf drastische Weise: So brach das Geschäftsklima für die M+E-Industrie im Juli 2024 regelrecht ein, wie der Konjunkturtest des Ifo-Instituts zeigt. Dafür bewerteten M+E-Unternehmen ihre aktuelle ökonomische Situation. Demnach sind die Betriebe nur noch zu 78 Prozent ausgelastet – nur während der Finanzkrise 2009 und während der Corona-Pandemie 2020 war die Auslastung geringer. Und während die Nachfrage weiterhin sehr schwach ist, beurteilen die Unternehmen auch ihre Auftragsbestände so negativ wie seit Corona nicht mehr.

14 Prozentpunkte liegt die Produktion unter der von 2018

Quelle: NiedersachsenMetall

Der Blick ins Ausland zeigt, dass Deutschland in eine gefährliche Schieflage geraten ist: Alle Industrieländer weltweit sind 2024 wieder auf Wachstumskurs, in Deutschland aber herrscht Stillstand. Laut Statistischem Bundesamt ist die deutsche Wirtschaft zuletzt sogar geschrumpft: Das Bruttoinlandsprodukt sank von April bis Juni 2024 um 0,1 Prozent im Vergleich zum Vorquartal. „Die deutsche Wirtschaft entkoppelt sich weiter vom weltweiten Wachstum“, stellt der Arbeitgeberverband Gesamtmetall in Berlin fest.

So schlecht haben die M+E-Firmen ihre Lage noch nie eingeschätzt

Die Gründe dafür sind vielfältig. Die M+E-Betriebe im Flächenland Niedersachsen kämpfen gleich mit mehreren Problemen – und die sind oft struktureller Natur. So kassiert etwa der Staat zu viel Geld: Fachkräfte müssen einen großen Anteil ihres Bruttoentgelts abgeben. Auch Unternehmen leiden unter hohen Steuern und Arbeitskosten. Allein die Summe der Sozialabgaben der Arbeitgeber ist auf 40,8 Prozent vom Brutto gestiegen!

Ökonomen warnen vor einer De-Industrialisierung

Umfragen unter Mitgliedsbetrieben von Niedersachsen-Metall zeigen: Im internationalen Vergleich haben die M+E-Firmen im Land ihre Wettbewerbslage noch nie so schlecht eingeschätzt. Produktion sei in Deutschland zwar schon immer teuer gewesen, doch das habe man früher durch gute Rahmenbedingungen kompensieren können, sagt Norbert Reiners, Tarifexperte von NiedersachsenMetall. Genau diese Stärke gehe nun verloren: „Der Standort ist abgehängt.“

Speziell im Maschinenbau sind die Aufträge aus dem Inland eingebrochen. Wie die IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt da von einem „komfortablen Auftragspolster“ der Betriebe sprechen kann – das erschließt sich den Arbeitgebern nicht. „Die Produktion befindet sich aktuell 14 Prozentpunkte unter dem Vorkrisenniveau von 2018. Und sie sinkt weiter“, warnt Dr. Volker Schmidt, der Hauptgeschäftsführer von NiedersachsenMetall.

Unter Ökonomen macht schon seit einer Weile das Schreckenswort von der De-Industriealisierung die Runde. Um die zu verhindern, fordern die Arbeitgeber, den Fokus auf die Beschäftigungssicherung zu setzen. Denn: „Nur der wirtschaftliche Erfolg sichert Arbeitsplätze auf Dauer.“

Das sagen Unternehmer aus Niedersachsen

Johann-Christian von Behr, Geschäftsführer der Perforator GmbH, Walkenried:

„Es fehlt an Planungssicherheit.Für uns als Zulieferer, aber auch für unsere Kunden. Es ist Aufgabe der Politik, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen. Alle müssen sich wieder darauf besinnen, was Deutschland stark gemacht hat: enorme Leistungsbereitschaft, hohe Innovationskraft und internationale Wettbewerbsfähigkeit.“

Dr. Uwe Krismann, Sprecher der Geschäftsführung der Hubert Stüken GmbH, Rinteln:

„Für uns ist Niedersachsen mehr als nur ein Standort von vielen, es ist unsere Heimat mit langer Geschichte. Doch wir betrachten mit großer Sorge, dass Deutschland an Attraktivität verliert: Bürokratie, Bildung, Energiesicherheit, Steuern, Genehmigungsverfahren – die Mängelliste ist lang“

Wolfgang Niemsch, Präsident und Verhandlungsführer von NiedersachsenMetall:

„Wir haben in der Vergangenheit gemeinsam mit unseren Mitarbeitern so manche Krise bewältigt. Wir werden es auch diesmal schaffen, das Tal zu verlassen. Doch im weltweiten Wettbewerb gehen unsere Betriebe mit Lasten ins Rennen, die andere nicht zu stemmen haben. Das muss sich schleunigst ändern.“

„Die Industrie ist im Abwärtstrend“

Interview mit Dr. Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer von NiedersachenMetall, über die massiven Standort-Sorgen.

Experten zeichnen gerade kein rosiges Bild von der ökonomischen Zukunft Deutschlands: Die Lage sei teilweise so miserabel, dass viele Betriebe an Abwanderung denken. Ist diese Warnung berechtigt? aktiv hat bei Dr. Volker Schmidt nachgefragt, dem Hauptgeschäftsführer von NiedersachsenMetall.

Herr Schmidt, seit Monaten warnen namhafte Ökonomen offen vor einer De-Industrialisierung. Wird hier ein neues Gespenst heraufbeschworen?

Nein, die Sorgen sind mehr als berechtigt. Davor warnt ja auch die IG Metall, wir haben im April sogar eine gemeinsame Erklärung dazu veröffentlicht. Und dennoch bringt die Gewerkschaft nun eine der höchsten Forderungen der vergangenen 30 Jahre auf den Weg – nur 2009 und 2022 lag ihre Forderung mit 8 Prozent noch höher. Dabei gibt es aktuell überhaupt nichts zu verteilen, denn unsere Industrie befindet sich in einem besorgniserregenden Abwärtstrend. Der Frust bei den Unternehmen ist inzwischen sehr groß. Wenn sich die IG Metall wirklich um unseren Standort sorgt, sollte alles unternommen werden, um die Bedingungen an diesem Standort zu verbessern.

Was meinen Sie konkret damit?

Das heißt, dass die Gewerkschaft ihre Mitglieder über den tatsächlichen Ernst der Lage aufklärt. Es ist Fakt, dass sich die Produktion in der Branche aktuell 14 Prozentpunkte unter dem Vorkrisenniveau von 2018 befindet – Tendenz weiter sinkend. Denn die Auftragslage lässt keine Besserung erwarten, im Gegenteil: Die Auftragseingänge im ersten Quartal 2024 haben das Niveau von 2023 um 7  Prozent unterschritten. Zwar gibt es noch Auftragsbestände in den Büchern der Unternehmen, diese werden aber nicht abgerufen und von Monat zu Monat schlechter bewertet. Inzwischen sorgen sich zwei von fünf Metall- und Elektro-Firmen über Auftragsmangel.

Was muss aus Ihrer Sicht getan werden?

Wir müssen dafür sorgen, dass unser Standort wieder wettbewerbsfähiger wird. Da gibt es gleich eine ganze Reihe von Aufgaben – zum Beispiel: die Steuern und Abgaben senken. Denn es sind längst nicht mehr nur die günstigeren Entgelte, die Firmen ins Ausland ziehen. Es sind auch deutlich niedrigere Steuern und Abgaben. Und dazu die Energiesicherheit und die Energiepreise, die geringere Bürokratie, die bessere Infrastruktur …

Das sind Themen für die Politik. Was können Unternehmen und Beschäftigte beitragen?

Ich bin mir sicher: Unsere Unternehmen wollen gern am Standort bleiben und mit ihren Beschäftigten zusammen erfolgreich den Strukturwandel meistern. Aber sie müssen das auch leisten können. Für sie steht fest: Noch mehr Lasten durch höhere Tarifentgelte, die von der Produktivität nicht gedeckt sind, können sie nicht stemmen.

Werner Fricke
Autor

Werner Fricke kennt die niedersächsische Metall- und Elektro-Industrie aus dem Effeff. Denn nach seiner Tätigkeit als Journalist in Hannover wechselte er als Leiter der Geschäftsstelle zum Arbeitgeberverband NiedersachsenMetall. So schreibt er für aktiv über norddeutsche Betriebe und deren Mitarbeiter. Als Fan von Hannover 96 erlebt er in seiner Freizeit Höhen und Tiefen.

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