Die Lockdowns sind Geschichte. Lieferketten und Energiemärkte haben sich beruhigt – trotzdem bleibt die erhoffte Erholung der deutschen Wirtschaft aus. Im zweiten Quartal dieses Jahres ist sie um 0,1 Prozent geschrumpft. Und noch sehen die Wirtschaftsforscher kein Licht am Ende des Tunnels. Im internationalen Vergleich liegen wir bei den Prognosen hinten. 

Woran liegt es nur, dass wir gegenüber anderen Staaten in puncto Wachstum zunehmend ins Hintertreffen geraten? aktiv unterhielt sich darüber mit Dr. Thomas Obst, Senior Economist am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Er erklärt, warum wir nicht aus der Stagnation kommen – und welche Folgen das hat.

Herr Obst, Finanzminister Christian Lindner verspricht sich vom Wachstumspaket der Bundesregierung die ersehnte Trendwende für die deutsche Wirtschaft. Können wir also etwas aufatmen?

Das sogenannte Potenzialwachstum der deutschen Volkswirtschaft im nächsten Jahrzehnt liegt gerade mal bei einem halben Prozent. Also die langfristige Veränderung des Bruttoinlandsprodukts bei angenommener normaler Auslastung der Produktionskapazitäten. Alle 49 Maßnahmen des Wachstumspakets zusammen sollen im nächsten Jahr ein zusätzliches Potenzialwachstum von rund einem halben Prozentpunkt bringen. Ich bin aber skeptisch, ob diese Verdoppelung tatsächlich erreicht werden kann.

Ein halber Prozentpunkt … Das klingt ja nicht gerade viel. Was kann daran so schwierig sein?

Problematisch ist vor allem, dass der Kurs für den Strukturwandel in Deutschland – und in Europa – nicht klar ist. Die grüne Transformation ist zu überladen mit sozialen und ökologischen Zielen. Ich bin gespannt, ob die Europäische Kommission tatsächlich, wie angekündigt, jetzt auf mehr Wettbewerb und weniger Regulierung setzt. Hinzu kommen die geopolitischen Unsicherheiten, die schwache Weltkonjunktur und die geringe Inlands- und Auslandsnachfrage. Die mittelfristigen Aussichten der Unternehmen sind dadurch ziemlich eingetrübt – je nach Branche unterschiedlich stark. Die energieintensive Produktion liegt immer noch 10 Prozent unter dem Niveau von Ende 2019. In der Chemie jagt ein Negativrekord den anderen. In der Elektrobranche lief es bis Frühjahr 2023 in der Produktion noch sehr gut, seitdem geht es abwärts.

Insgesamt gab es einfach keinen nachhaltigen Aufholeffekt wie etwa in den USA oder anderen europäischen Ländern. Vor allem der private Konsum und die privaten Investitionen konnten seit Ende 2019 in Deutschland keine Dynamik mehr entfachen. Das kommt mittlerweile auch im Arbeitsmarkt an, mit einer steigenden Arbeitslosenquote auf momentan 6 Prozent.

Warum kommen denn ausgerechnet wir nicht wieder aus dem Tief?

Grundsätzlich muss man sagen: Wenn Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich seit mittlerweile drei Jahren deutlich dynamischer wachsen als wir, sollte uns das zu denken geben! Wir sind bei der Wachstumsprognose des Internationalen Währungsfonds auch im Jahr 2024 Schlusslicht unter den G7-Ländern. Wenn man davon ausgeht, dass die Weltwirtschaft in diesem Jahr zwar gedämpft, aber doch mit 2,5 Prozent wächst und zugleich in Deutschland ein Nullwachstum rauskommt, kommt man zu dem Schluss, dass es sich nicht nur um eine momentane Flaute handelt – und viele Probleme hausgemacht sind.

Welche Probleme meinen Sie da genau?

Da ist derzeit vorwiegend eine Wirtschaftspolitik, die nicht für Stabilität sorgt. Außerdem die überfordernde Migrationspolitik. Und die hohe Abgabenbelastung, Beispiel Unternehmensteuern: In Summe ergibt sich gegenwärtig eine Steuerbelastung der Gewinne von im Schnitt rund 30 Prozent – knapp 9 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten.

Zusammen mit den hohen Energiepreisen, zunehmender Bürokratie und maroder Infrastruktur ergibt sich: Die Standortbedingungen haben sich nachhaltig verschlechtert. Und vor allem die Energie- und Klimapolitik verunsichert die Unternehmen zusätzlich.

Trotzdem hört man ab und zu auch von neuen Werken in Deutschland. Also läuft es doch noch, oder?

Nun ja, diese Investitionen wurden schon vor einigen Jahren, also noch in guten Zeiten, geplant und in Gang gesetzt. Und ausländische Unternehmen werden oft mit hohen Subventionen gelockt, wie zum Beispiel die Chiphersteller Intel oder TSMC. Bei den gesamtwirtschaftlichen Direktinvestitionen sehen wir jedoch seit drei Jahren historisch hohe Nettoabflüsse. Das heißt: Deutsche Unternehmen investieren weit mehr im Ausland als ausländische Unternehmen hier.

Wie wird sich das mittelfristig auswirken, wo stehen wir in drei bis fünf Jahren?

Wenn Unternehmen jetzt nicht investieren, geht uns Wertschöpfung verloren. Der Kapitalstock wird mittelfristig schrumpfen, also die Gesamtheit der produktiven Vermögensgüter unserer Volkswirtschaft. Und wenn Unternehmen gar ihre Standorte verlagern, müssen wir zusätzliche Entlassungen befürchten, vor allem in der international tätigen Industrie.

Aktuell gelten in Deutschland 1.797 Gesetze sowie 2.866 Rechtsverordnungen. Die Zahl der Gesetze ist seit 2010 um 7,6 Prozent gestiegen

Stand: Mai 2024, Quelle: Deutscher Bundestag

Öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und private Investitionen der Betriebe sind daher wichtiger denn je. Denn nur so können wir zukünftig noch Produktivitätsfortschritte erreichen und damit den Wohlstand erhalten. Ein investitionsfreundliches Steuer- und Sozialsystem wäre da wirksamer, als Neuansiedlungen von einzelnen Unternehmen großzügig zu subventionieren.

Wenn die Politik jetzt das Ruder ernsthaft herumreißt, wie schnell kann dann ein echter Aufschwung folgen?

Die meisten Prognosen gehen für 2025 nur von einem Wachstum von etwas über 1 Prozent aus. Eine kurzfristige und vor allem nachhaltige Erholung der Wirtschaft ist also nicht in Sicht. Nur eine grundlegende wirtschaftspolitische Wende kann das Wachstum anheben, alles andere bringt höchstens ein kurzfristiges Strohfeuer. Also ein grundlegendes Umdenken! Weg von zu vielen staatlichen Eingriffen – und zurück zu den marktwirtschaftlichen Prinzipien, die Deutschland einst zur Wachstumslokomotive Europas gemacht haben.

Ursula Wirtz
aktiv-Redakteurin

Als Mitglied der Stuttgarter aktiv-Redaktion berichtet Ursula Wirtz aus den Metall- und Elektrounternehmen in Baden-Württemberg sowie über Konjunktur- und Ratgeberthemen. Sie studierte Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Später stieg sie bei einem Fachzeitschriftenverlag für Haustechnik und Metall am Bau in den Journalismus ein. Neben dem Wirtschaftswachstum beobachtet sie am liebsten das Pflanzenwachstum in ihrem Garten.

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